Verlegerpost: Im teuflischen Paradies – Maike Albath und Neapel
In den späten achtziger Jahren bin ich ein paar Mal in Neapel gewesen. Grund war allerdings ein anders Reiseziel namens Capri, die berühmte Insel, die in Sichtweite der großen Stadt unter dem Vesuv jene Bucht abschließt, die aus Neapel und seiner geografischen Umgebung eine der schönsten Stadtanlagen Europas, wenn nicht des ganzen Planeten bildet.
Schon das erste Mal war unvergesslich. Ich hatte in Roma Termini einen Zug bestiegen, und während wir durch Latium fuhren, saß ich im Speisewagen und aß in aller Ruhe gut zu Mittag, bis wir in Neapel landeten. Nicht am Hauptbahnhof, sondern in Mergellina, einem vergleichsweise kleinen, aber dafür umso pompöser mit allen Insignien der Belle Époque geschmückten Bahnhof. Von dort waren es nur wenige Minuten zu Fuß zum nahen Hafen, wo die damals als letzter Schrei angepriesenen Tragflächenboote russisch-sowjetischer Bauart zu den Inseln abfuhren, auch nach Ischia, Procida und nach Sorrent, das ich vom Boot auf der Überfahrt betrachten konnte.
Es war der Tag vor Silvester, und ich wurde am Hafen von meinem damaligen Chef Klaus Wagenbach und seiner Frau Barbara erwartet, mit denen ich zusammen hier den Jahreswechsel erlebte – unterhalten von der zu diesem Datum in großer Zahl angereisten neapolitanischen Jeunesse dorée. Ort der Silvester-Party war die Piranya-Bar. Den Neujahrstag begingen wir mit einem Mittagessen in Marina Piccola. Zur Feier des Tages stieg, wie jedes Jahr, direkt vor dem Restaurant, eine Dame, wie wir erfuhren aus bekannt einheimischer Familie, ins Meer. Ich fand es zu kalt, wurde aber belehrt, dass es sich um ein Tradition gewordenes Ritual handele, auf das sich die bei Weißwein und Spaghetti Vongole ausharrenden Gäste Jahr für Jahr freuen dürften. Nicht nur aufgrund solcher Erlebnisse war alles ziemlich neu und aufregend. Danach fuhr ich mit den sowjetischen Booten – deren Mannschaft Klaus Wagenbach damals noch samt und sonders für Faschisten hielt – wieder nach Neapel zurück und verbrachte noch einen Nachmittag in den Museen, soweit geöffnet, und eine Nacht im Hotel. Die Stadt blieb eine schöne Durchgangsstation.
Wer wie ich das Glück hatte, viele Jahre für Klaus Wagenbachs Verlag zu arbeiten, konnte einiges über Italien lernen und erfahren. Kurioserweise bezog das den Süden, zu dem Neapel gehört, eher weniger ein. Capri blieb eine Ausnahme. Das Wagenbach’sche Italienbild, verschwenderisch ausgestattet mit norditalienischer und toskanischer Lebenskultur und Kunst, reichte Anfang der neunziger Jahre im Wesentlichen bis Rom, der Stadt Pasolinis und Gaddas, um nicht nur deren Verbreitung der Berliner Verlag sich die bekannten Verdienste erworben hat.
Aber zum Glück lernt man nie aus. Der Journalistin, Autorin und Italien-Kennerin Maike Albath bin ich erst später begegnet. Mit »Bitteres Blau. Neapel und seine Gesichter« ist in diesem Herbst schon zum vierten Mal ein Buch über Italien von ihr in diesem Verlag erschienen. Trotzdem habe ich, glaube ich, an dieser Stelle noch nie über sie geschrieben. Das darf nicht so bleiben.
Es ist keine Übertreibung, wenn ich sage, dass die Bücher von Maike Albath, die Arbeit daran, die Unterhaltungen über ihre Wahlheimat, die Berichte von ihren Fahrten dorthin und immer wieder auch die Begegnungen mit Italiener·innen, die ich als ihre Freund·innen kennenlernen durfte und von denen man in ihren Büchern so vielen begegnen kann, dass all dies mir Italien auf eine vor allem sehr gegenwärtige Weise erschlossen hat. Dass man nicht aus München oder Süddeutschland stammen muss, wenn man über das Land jenseits der Alpen Bescheid wissen will, dafür ist diese Autorin ein schönes Beispiel. Sie stammt aus Braunschweig und spricht ein wunderbares klares Deutsch, in dem zum Beispiel ein Ä tatsächlich so klingt, und nicht wie ein E. Maike ist in jungen Jahren zum Studium nach Italien gekommen und hat längst die kulturelle italienische Staatsbürgerschaft erworben, wenn es denn so etwas geben sollte. Gibt es aber nicht, und wozu auch? Maike ist ein schönes Beispiel dafür, dass weder Pass noch sonstige Akkreditierungen nötig sind, um ein Land und seine Bewohner so kennenzulernen, dass selbst Italiener neidisch werden dürften, weil diese Frau ihr Land mit der Zeit womöglich genauer kennen und erklären gelernt hat als sie selbst.
Seit 2010 sind im regelmäßigen Abstand von vier oder fünf Jahren Bücher von ihr in unserem Verlag erschienen, in auch geografisch klug abgemessenen Schritten – Turin, Rom, Sizilien, Neapel. Es begann mit »Der Geist von Turin. Pavese, Ginzburg, Einaudi und die Wiedergeburt Italiens nach 1943«. Darin beschrieb sie das für die italienische und die europäische Nachkriegsliteratur so folgenreiche Kapitel, mit dem sich Namen wie Natalia Ginzburg, Cesare Pavese, Italo Calvino und der Einaudi Verlag verbinden. Die Literarische Welt fand es »fulminant«.
Als nächstes erschien vor genau zehn Jahren »Rom, Träume. Moravia, Pasolini, Gadda und die Zeit der Dolce Vita«. Ein Buch über Rom zur Zeit seiner vielleicht glänzendsten kulturellen Blüte nach 1945: Fellini, Anna Magnani, Silvana Mangano, Anita Ekberg, Mastroianni, Pasolini, Elsa Morante, Gadda, Moravia – Dolce Vita zwischen Cinecittà und Via Veneto. Denis Scheck drehte eine Folge für seine Literatursendung und beschrieb das Buch als »geglückten Zwitter zwischen geistfunkelnder Kulturgeschichte, amüsanter Anekdotensammlung und hinreißendem Klatsch«.
Vor fünf Jahren dann ein Buch über Sizilien: »Trauer und Licht. Lampedusa, Sciascia, Camilleri und die Literatur Siziliens«. Gewiss: Sonnendurchflutete Melancholie am Beispiel von Lampedusa (und Visconti!) gab es da zu besichtigen. Aber auch glänzende Reportagen aus der Gegenwart über hierzulande unbekannte mutige Frauen wie die Fotografin Letizia Battaglia, die Verlegerin Elena Sellerio und ihren Kampf gegen die Mafia sowie Fluch und Segen der Migration, die damals bereits Siziliens Küsten erreicht hatte. An »ein schöneres, sizilianischeres Buch über Sizilien« konnte sich die FAZ nicht erinnern.
Und nun? Immer wieder heißt es, Neapel sei die schönste Stadt Europas. Wer sie an einem wolkenlosen Tag erlebt hat, womöglich noch bei über dem Vesuv herab sinkender Sonne, könnte diesem Urteil ohne weiteres zustimmen. Herumgesprochen hat sich aber auch, dass die Stadt ein wildes Pflaster ist. Nicht nur der Name Camorra steht dafür. Vielleicht hatte der Neapolitaner Benedetto Croce, einer der klügsten Italiener nicht nur im zwanzigsten Jahrhundert, sondern überhaupt, ganz recht, als er seine geliebte Heimatstadt, deren Bewohner ihn unter Krokodilstränen und massenhafter Anteilnahme 1952 zu Grabe trugen, nachdem sie ihn zur Zeit des Faschismus geflissentlich ignoriert oder beschimpft hatten, »ein von Teufeln bewohntes Paradies« nannte. Maike Albath hat dem Hausherrn im Palazzo Filomarino in ihrem Buch ein berührendes Kapitel gewidmet.
Der Literatur, so zeigen schon ihre Untertitel, kommt in Maikes Büchern eine Hauptrolle zu. Tatsächlich ist es so, dass sich darin oft über die eigentlich für Fiktion, das klug Erfundene zuständigen Frauen und Männer, die in Turin, in Rom, Neapel und Sizilien schreiben, überhaupt erst die zeitgenössische Realität dieser Orte erschließt. Üblich, wenn auch notorisch unzuverlässig, ist ja die umgekehrte Reihenfolge: Die Literatur bildet (angeblich) die Realität ab. Nun ist es nicht so, dass die Bücher von Ermanno Rea, von Fabrizia Ramondino, Anna Maria Ortese, Elena Ferrante, von Raffaele La Capria, Domenico Starnone, Roberto Saviano oder Erri De Luca für die Wirklichkeit des neapolitanischen Stadtbilds und der darin lebenden »Schauspieler« verantwortlich sind. Aber dafür, wie man sich in diesem uralten seit der Antike gewachsenen städtischen Palimpsest bis heute eingerichtet hat, wie die Bewohner dieser Stadt mit dem »täglichen Erdbeben« zurechtkommen, wie ein kluger Chronist die Alltagserfahrungen genannt hat, denen die Neapolitaner ausgesetzt sind, dafür ist die Literatur ein unverzichtbarer Schlüssel, und dafür sind die Schriftsteller·innen auch dieser Stadt ein unerlässliches Instrument.
Maike Albaths Buch über Neapel ist für mich ihr bisher mit Abstand radikalstes Buch aus Italien. Man braucht deshalb keinen Schreck zu bekommen – diese bewundernswerte Autorin hat weder ihr Outfit noch ihren Habitus, geschweige denn ihren Stil auf eine Weise verändert, dass man sie kaum noch erkennt. Für die Radikalität sorgt hier der Gegenstand. Wer einmal in der Stadt am Vesuv unterwegs war, egal wie kurz, wird bemerkt haben, dass die Vibrationen, die sozialen, die ethnischen, die sprachlichen, die kulturellen und alltäglichen, noch einmal von ganz anderer Natur sind als im Rest Italiens, ob der nun im armen Süden liegt (zu dem die Stadt gehört) oder im satteren Norden. Radikal ist die Wucht, mit der diese Stadt sich ihren aufmerksamen Besucherinnen mitteilt. Man kann in Maikes Buch nachlesen, wie Alltagsphänomene der neuesten Art, Migration, Massentourismus, die hypermodern-endemischen Ausformungen des organisierten Verbrechens, die sozialen Tragödien der Deindustrialisierung und des Scheiterns staatlicher Wohnungsbaupolitik, nicht zu vergessen Trost und Psychoterror namens Fußball, das Gesicht einer Stadt geprägt haben. Und man kann auch nachlesen, und wie stets ist das am Beispiel Italien eine anrührende Geschichte, wie die Menschen, die unter diesen Bedingungen leben, immer wieder in vehementer Eigeninitiative versucht haben, aus diesen Kalamitäten nicht nur das Beste zu machen, sondern tatsächlich auch rettende, helfende Projekte mit erstaunlich positiven Resultaten zu zaubern. Da ist Rosario Esposito La Rossa und sein im Wortsinne unbeschreibliches Kultur und Buch-Projekt La Scugnizzeria im für viele schon verloren geglaubten Problemviertel Scampia. Und nur in einer katholischen Kultur wie Italien, vielleicht noch im hispanischen Universum, dem Neapel so viele Einflüsse verdankt, ist eine sozial und politisch so segensreich wirkende, kirchenunabhängige Instanz vorstellbar wie die des Priesters Don Antonio und seiner für viele von der Spritze geretteten Jugendlichen lebensrettenden Cooperativa La Paranza, die ganz nebenbei auch noch die weltberühmten Katakomben aus heidnisch antiker Vergangenheit in vorbildlicher Weise pflegt und verwaltet.
Ich habe die Literatur genannt, die Maike Albath in ihren Büchern zu einem Generalschlüssel für das Verständnis Italiens gemacht hat. Davon profitieren alle Leser·innen ihrer Bücher. Es liegt aber auch ein Geheimnis in dieser Art der spannenden und umfassenden Vermittlung literarisch-landeskundlicher Rätsel, und das ist die soziale Begabung dieser Autorin. Nie wird man in Maikes Büchern in die Welt der Literatur und der Literaten eingeführt, ohne die Vermittlung lebendiger, im Alltagsleben tätiger Personen, die ganz im Hier und Jetzt zu Hause sind. Und man kann lesend miterleben, wie das abläuft, der Besuch im Café oder zuhause oder am Arbeitsplatz, oder die gemeinsamen Wanderungen, in deren Verlauf diese Autorin aus erster Hand und nicht aus bedrucktem Papier erfährt, worüber sie berichten will.
Es sind immer Vermittler unterwegs in ihren Büchern, die man ebenso gern kennenlernt wie die Romane, die Gedichte, die Artikel, die Kirchen, Paläste. In Neapel allerding geht es um mehr. Die Gegenwartsprobleme, und zwar die der westlich verfassten und immer wirrer werdenden Zeit, möchte man hinzu fügen, hat Maike Albath in dieser Stadt bei ihren zahllosen Erkundungen während der letzten Jahre noch einmal, so jedenfalls liest es sich, auf viel konzentriertere, grellere Art kennen gelernt als bei ihren voran gegangenen Stationen. Unter der stilsicheren Oberfläche kann man, zumal hier, am Beispiel Neapel, ganz deutlich erkennen, wie sehr Maike Albath Journalistin ist, wie stark ihr Beruf sie geprägt hat. Die Kapitel in ihren Büchern verwandeln sich an bestimmten Punkten immer wieder in Reportagen, unterhaltsam, spannend, sorgfältig recherchiert, glänzend geschrieben.
Das ist kein Zufall: Maike Albath verdient ihren Lebensunterhalt seit langem als Journalistin und Radio-Moderatorin. Vorwiegend für Deutschlandfunk und Deutschlandfunk Kultur berichtet sie über Literatur und Neuerscheinungen. In der Süddeutschen Zeitung und in Die Zeit u. a. ist sie regelmäßig zu lesen, zahllose Bücher, nicht nur aus dem Italienischen, sind mit ihren Einleitungen auf die Reise geschickt worden. Wie lange sie in Italien gelernt und gelebt hat, entzieht sich meiner Kenntnis. Es ist auch nicht so wichtig, denn ohnehin wird sie nicht mehr nur auf deutschsprachige Podien eingeladen, um dort über Literatur, und italienische zumal, zu reden. Auch die Italiener haben sie entdeckt und regelmäßig gebeten, auf Podien aufzutreten und sie gar zu moderieren, die sich in Rom, Palermo, Turin und andernorts befinden. Nicht zu reden von den Jurys für italienische Literaturpreise, denen sie ihre immer charmant und nie mit dem Hauch der Besserwisserei vorgetragene Expertise zur Verfügung stellt. Da ist eine Frau, die fühl- und lesbar macht, was für eine zweifelhafte Sache Grenzen geworden sind, zumal auf dem Minikontinent namens Europa, mit seinen kleinen Ländern und all den Völkchen, die sich seit Jahrtausenden produktiv vermischen, durchdringen und seltsamerweise immer wieder auch umbringen, von denen aber immer noch allen Ernstes behauptet wird, es handele sich dabei um Nationen, womöglich noch mit einer Mission.
Grenzen, Begrenzungen, Abgrenzungen gibt es überall, aber sie sind kultureller, ethnischer, sprachlicher und topografischer Natur, und sie sind zum Glück und zur Unterhaltung ständig fließend. Neapel, der aufregende Gegenstand von Maikes neuem Buch ist dafür ein schlagender Beweis. So wie in Berlin Zehlendorfer oder Steglitzer sich nicht andauernd nach Neukölln oder Friedrichshain wagen, rümpfen die Neapolitaner aus den feineren Gegenden in Vomero oder Posillipo gern die Nase über die Eingeborenen der Sanità, zu schweigen von einem wilden Vorort wie Scampia mit dem Monument städtebaulicher Irrwege namens Vele (zu bewundern auf der Umschlagrückseite ihres Buchs). Wie schöpferisch und dynamisch aber diese Begrenzungen wirken, auf welche Weise ihre Bewohner, zumal die kreativen unter ihnen, diese Barrieren immer wieder überwinden und einreißen, um ihre Stadt eben doch durchlässiger, verständlicher und bewohnbarer zu machen, das kann man hier Kapitel für Kapitel nachlesen. Maike ist furchtlos durch das Labyrinth namens Neapel gewandert, durch die schlimmen Stadtviertel und die besseren, durch Vorstädte und Industrieruinen, immer an der Seite ihrer unzähligen Freunde und Bekannten, die sie auch hier gesammelt hat. In ihrem schallenden, wohltönenden Italienisch hat sie sich mit ihnen unterhalten, auch dann, wenn in den Gesprächen plötzlich wieder eine neue Grenze auftaucht: das Neapolitanische, jener Dialekt, der schon fast eine eigene Sprache ist, und der die armen wie die reichen Bewohner jener unheimlich brodelnden Gefilde zwischen Vesuv und Phlegräischen Feldern vereint, auf denen die unvergleichliche Stadt namens Neapel bis heute trotz allem stehen geblieben ist.
Ci vediamo!
Ihr
Heinrich v. Berenberg
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